Impressionen aus dem Hannover der 1920er Jahre von Christiane Rischbieter

Die am 07.07.23 beginnenden Ausstellungen beschäftigen sich mit El Lissitzky, der vor 100 Jahren das erste Mal in der Kestnergesellschaft ausstellte und einige Zeit in Hannover verbrachte. Die folgenden Seiten beschäftigen sich nicht mit der bildenden Kunst zu dieser Zeit, das wird in den Ausstellungen und den Begleitveranstaltungen geschehen. Aber wir haben uns Gedanken darüber gemacht, wie das Leben in Hannover in dieser Zeit war, Was und Wer eine Rolle in der Stadt spielte. Das Folgende weist hin und soll bestenfalls zu weiterer Beschäftigung anregen.

Zur Situation,

Nach dem Ende des ersten Weltkriegs mit seinen Millionen Toten empfanden die Menschen in Deutschland den Frieden im Allgemein nicht als Errettung. „Auch in Hannover überwog das Gefühl, daß man sich nach wie vor in einer großen Krise befand und durch die Niederlage um den verdienten Lohn jahrelanger Anstrengungen und Entbehrungen gebracht worden war.

Der Waffenstillstand bedeutete auch in der Tat nicht das Ende von Hunger, Not und Entbehrung, im Gegenteil: durch die zurückflutenden, zu demobilisierenden Soldaten wurden die Schwierigkeiten in der Heimat nur noch größer.“ [1]

Revolution! Revolution?

Auch die durch die Soldatenräte und Marine ausgelöste „Revolution“ veränderte wenig an der konkreten sozialen Situation.

Der am 3. Oktober 1918 zum Reichskanzler ernannte Prinz Max von Baden, beschrieb in seinen „Erinnerungen“ die revolutionären Ereignisse in Hannover: „Am unheimlichsten sind die Meldungen aus Hannover: die Stadt ist von zugereisten Marinemannschaften überrumpelt worden“ [2].

Die Augenzeugin Vicky Baum, Schriftstellerin und Gattin des hannoverschen Kapellmeisters Richard Lert, scheint das Revolutionsgeschehen in Hannover nicht als bedrohlich empfunden zu haben. Rückblickend auf ihre Zeit in Hannover schreibt sie „Die Revolution war, glaube ich, nach russischem Muster geplant, rot, proletarisch, radikal. Es wurde dann aber eine durch und durch deutsche Revolution: wohlorganisiert, geordnet, sauber, nüchtern. Das Theater bekam Befehl, weiterzuspielen wie gewöhnlich…. Zwischen dem Theater, dem nahegelegen Bahnhof und dem Viertel, wo wir wohnten, bauten die Spartakisten Barrikaden, die jedoch bei Nacht mit den roten kleinen Laternen des Straßenamts gekennzeichnet wurden, damit sich niemand beim Überklettern die Zehen stieß. Ein besseres Symbol für diese ruhige ordentliche Revolution kann ich mir nicht denken.“ [3]

Wohnungsnot

„Im Oktober 1920 wurden in Hannover 9500, ein Jahr später bereits 18 000 Haushalte mehr gezählt als vor dem Krieg.  Die Industrie, die im 19. Jahrhundert den Wohnungsmarkt durch den Bau von Werkswohnungen merklich entlastet hatte, hielt sich nun zurück, weil kostendeckende Mieten angesichts steigender Baupreise – vor allem Baumaterialien waren knapp und teuer – nicht zu erzielen waren“. [4]

Das neugeschaffene Wohnungsamt hatte eine fast nicht lösbare Aufgabe.

So wurde beispielsweise nach unterbelegtem Wohnraum gesucht. „Bis zum 1. Oktober 1921 wurden 10 687 Wohnungen besichtigt und dabei 2733 Nebenwohnungen erfaßt, die beschlagnahmt und auf Stadtkosten notdürftig hergerichtet wurden.“[5]

Es gab unzählige über die Stadt verteilte Obdachlosenasyle, zu denen zeitweilig die Bürgerschule in der Meterstraße mit 14 sogenannten

„Notwohnungen“ und das Polizeigefängnis in der Hardenbergstraße gehörten. [6]

Inflation und Arbeitslosigkeit

„Schon im Laufe des Jahres 1920 war der Wert der Mark auf ein Dreizehntel des Goldmarkwerts gesunken. Ohne Überstunden bzw. Sonn- und Feiertagsarbeit, die zu einer permanenten Aushöhlung des 8-Stunden-Tags, einer der wichtigsten Errungenschaften der Novemberrevolution, führten, konnte ein normaler Arbeitnehmer kaum noch existieren.“ [7]

„1922 neigte sich die seit Sommer 1921 anhaltende Konjunkturphase, die die Erwerbslosenquote in Hannover fast gegen Null gedrückt hatte, ihrem Ende zu, und gegen Jahresende begann die Inflation zu galoppieren“ [8]  „Im Januar 1923 kostete ein Liter Milch 188 Mark, Ende Oktober 2,24 Milliarden! Unmittelbar vor Einführung der Rentenmark am 28. November 1923 stand der Dollar bei 1: 4,2 Billionen. Zu den unausweichlichen Folgen aus Arbeitnehmersicht gehörten: der Verfall der Reallöhne – sie lagen 1923 um ein Drittel unter jenen der Vorkriegszeit -, zunehmende Engpässe bei der Lebensmittelversorgung und nicht zuletzt rapide wachsende Arbeitslosigkeit. Letztere stieg von 3919 Erwerbslosen im Januar 1923 auf 22.156 im Januar 1924.“ [9]

Architektur

zwischen 1910 und 1920 beginnt sich der Expressionismus auch in der Architektur zu manifestieren. In der Architektur zeigte sich fast immer ein Zug zum Übergroßen, Super-Monumentalen. Beispiele dafür sind in Hannover das Projekt der Tet-Fabrik und der Tet-Stadt, das Bernhard Hoetger 1916/17, mitten im Krieg, für Hermann Bahlsen entwarf. „Die Baumassen werden auf überwältigende, geschlossene Formation hin symmetrisch geordnet, massive, urtümlich gestaltete Türme und Monumente (zu wessen Gedächtnis?) setzen Orientierungspunkte. Herrscherlicher Wille triumphiert über menschliches Maß. Hoetgers Modelle wurden 1917 in der Kestner-Gesellschaft gezeigt, aber keineswegs einhellig bewundert. Von einer «Mischung von Assyriologie und Amerikanismus» sprach man im «Hannoverschen Kurier». 1919 verzichtete Hermann Bahlsen endgültig auf die Verwirklichung des Projekts. [10]

Revolution und Wirtschaftskrise verhinderten weitere größere Bautätigkeit.

Nur am Rande Hannovers, in Vinnhorst, „errichtete die Textilfirma Gebr. Meyer 1920/21 ein Lagerhaus, und zwar nach Plänen des Berliner Architekten Hans Poelzig, der mit dem Wasserturm in Posen und dem Großen Schauspielhaus in Berlin schon auf eigentümliche Weise zur Architektur seiner Zeit beigetragen hatte. Die Backsteinfassade des Meyerschen Lagerhauses ist ein (wenn auch ein bisher kaum bemerkter, doch um so nachdrücklich hervorzuhebender) Höhepunkt der Architektur in Hannover.“ [11] Diese Bauweise mit roten glasierten Ziegeln und reliefartigen Verzierungen wurde in der Folgezeit in Hannover häufig sowohl beim Wohnungsbau als auch beim Firmenbau verwandt

Theater

„Bei Kriegsende gab es in Hannover neben dem »Königlichen Hoftheater«, das noch im November 1918 in »Opern- und Schauspielhaus« umbenannt wurde, drei private Schauspielbühnen: das »Residenztheater« in der Marktstraße, die »Schauburg» in der Hildesheimer Straße und das »Deutsche Theater« in der Reuterstraße.“ [12]

„Das von der Schließung bedrohte »Hoftheater«, in dem traditionell sowohl Oper als auch Schauspiel gespielt wurden, war das einzige seiner Art in Deutschland, das nach der Revolution in städtische Regie überführt wurde. Am 23. November 1920 stimmten die Städtischen Kollegien dem sogenannten Theatervertrag zu, der am 1. Januar 1921 in Kraft trat. Als Entschädigung für den Fortfall der staatlichen Subventionen erhielt die Stadt u. a. den Welfengarten, den Berggarten, einige Baugrundstücke südlich und südwestlich des Großen Gartens, die ehemalige Ulanenkaserne am Königsworther Platz, die pachtfreie Überlassung des Leineschlosses sowie die staatliche Domäne Coldingen mit einer Gesamtfläche von 666ha.“[13]

Viele Theater- doch was fand dort statt? Eine polemische Beschreibung der Aufführungspraxis und des Theatergeschmacks der Hannoveraner liefert

Johann Frerkingin der Zeitschrift «Das Hohe Ufer» Heft I, Januar 1919

„Von den hannoverschen Theatern und ihrem Publikum

Die Zensur ist gefallen. Der Geist ist frei. Welchen Gebrauch machen die hannoverschen Bühnen von dieser Tatsache?

Gar keinen? Doch halt: im Residenztheater gab’s Wedekinds «Erdgeist», oder vielmehr eine spießbürgerliche Parodie darauf, und das Deutsche Theater brachte eine in Einzelzügen gute, aber unfertige und in der männlichen Hauptgestalt seltsam starre und verschleierte Aufführung von Strindbergs «Vater». Und ebenda füllt nun schon wochenlang des alten Macchiavell «Mandragola» in der – nochmals überarbeiteten – Neugestaltung Egers Kasse und Zuschauerraum.

Und das ist nun wirklich alles. Der Rest ist himmelanschreiende Verzweiflung. In den ehemals «königlichen» Schauspielen folgte auf G. Hauptmanns taube «Winterballade» und Hans Müllers als Kitsch freilich virtuosen «Schöpfer»

(Sudermann plus Dreyer) im neuen Jahr ein namenloser Schwank des Hausregisseurs mit Musik von einem Mitgliede der Hauskapelle; im Residenztheater kehrt man, nach einem anständigen Zögern, entschlossen zu den alten Hausgöttern Sudermann und Meyer-Förster zurück, denen der neue Liebling der Stadt, Anton Wildgansens, in seiner subalternen «Kühnheit» schreckliches Drama von der «Liebe» zugesellt ward; im Deutschen Theater ist Molos «Infant der Menschheit» schnell wieder verschwunden: «Die verlorene Tochter», «Die tanzende Nymphe»,…. und in der Schauburg, dem schönsten Bühnenhause Hannovers – na ja -: «Hasemanns Töchter», «Der Herr Senator», «Der Raub der Sabinerinnen» heißen die wertvolleren Stücke ihres Planes.

Und alles das könnte doch so ganz anders aussehen. Nicht fürder diese Töne, Freunde, sondern stimmt andere an und freudenvollere!

«Aber –», höre ich die Klügelnden und Kleinmütigen sagen. Ja, meine Freunde, ihr müßt freilich die guten Zuhörer, die ihr mit dem Ragout von gestern und vorgestern, das ihr euern Spielplan nanntet, längst zum Tore hinausgespielt habt, erst wieder ans Haus gewöhnen, und die anderen, die stets Geduldigen und Unparteüschen, denen alles gleich lieblich einging und die immer nur die eine Frage bewegte, ob sie sich am Ende kriegten oder gemeinsam in den Teich gingen, die müssen eben allmählich daran gewöhnt werden, die Schaubühne für eine etwas ernstere und schwierigere Angelegenheit anzusehen, als ihr ihnen zu eröffnen so lange Zeit für gut befunden habt. Und wollt ihr heiter sein, euren Gästen, wie die faule Phrase immer wieder sagt, in dieser schweren Zeit ein paar frohe unbeschwerte Stunden bereiten: unter den genannten sind der lustigen Spiele eine ganze Reihe, und bei Shakespeare, Molière, Niebergall, Raimund, Nestroy, Anzengruber, Thoma gibt’s noch viele mehr, auch gegen «Robert und Bertram» und einen gelegentlichen «Raub der Sabinerinnen» wird nichts eingewendet, nur bleibt im weiten Lande der Kunst, das euch redlich ernähren kann, und bleibt uns mit den Tantiementigern und Schwankschustern vom Halse.

Überhaupt (es scheint nötig, das ausdrücklich zu sagen): niemand will hier einer bestimmten Kunst-«Richtung» einseitig Siege verhelfen; das wäre Torenwerk und hieße, der drohenden Knappheit der irdischen Güter die geistige Verarmung gesellen. Nein, wir wollen nur endlich einmal auch hier in der seligen Phäakensiedlung Hannover des ganzen lebendigen Reichtums, der uns gehört, teilhaftig werden. Und wir hoffen und glauben fest, es werde sich leichter gehen in kommenden Jahren mit vollem Gepäck als mit einer Mantelatrappe auf dem im übrigen leeren Ranzen.

Es gibt ja überhaupt keine «Richtungen». Es gibt nur Kunst und Unkunst.

Und nun heran, Herzen und Hände, und angefaßt! Es ist viel zu tun. Und der am längsten und ärgsten sündigte, sei der Eifrigste für die gute Sache.“ [14]

Museen

Wenn man von Alexander Dorner absieht, haben sich die hannoverschen Museen, vor allem in der zweiten Hälfte der 20er Jahre, in eher traditionellen Bahnen bewegt. Gescheitert war vor allem die in den ersten Nachkriegsjahren in Angriff genommene „Museumsreform“, die auf eine völlige Neuordnung des hannoverschen Museumswesens hinauslaufen sollte. „Aus den bis dahin bestehenden 4 Museen sollten nach Auflösung des Kunstgewerbemuseums im Leibniz Haus und Dreiteilung des Provinzialmuseums bei klarer Abgrenzung der Bestände und Sammelgebiete 7 Museen entstehen: das Vaterländische Museum (nur Landesgeschichte), das Provinzialmuseum (nur Malerei und Plastik), das Kestner-Museum (ohne seine ältere Malerei und Plastik), dazu neu: je ein stadtgeschichtliches, volkskundliches, naturgeschichtliches und urgeschichtliches Museum.“ [15] Fast nichts hiervon ist verwirklicht worden. Es blieb bei den bisherigen Museen, und ein nennenswerter Austausch kam nur zwischen dem Kestner-Museum und dem Provinzialmuseum zustande: letzteres erhielt aus dem Kestner-Museum dessen moderne Gemälde und Plastiken im Austausch gegen einige kunstgewerbliche Sammlungsbestände, ins

Kestner-Museum überführt wurden.  [16]

Verlage und Zeitschriften

In den 20er Jahren fanden erstaunlich viele neue Zeitschriften- und Verlagsgründungen statt, die meist keine lange Lebensdauer hatten, so. Schwitters-Zeitschrift »MERZ«, deren erstes Heft im Januar 1923 erschien und die sogleich der Avantgarde die erwünschte literarische Bühne verschaffte. „Nur zwei Jahrgänge, 1919 und 1920. erlebte die von Hans Kaiser herausgegebene und bei Ludwig Ey verlegte Zeitschrift »Das Hohe Ufer«, die sich vornehmlich um die Verbreitung der expressionistischen Lyrik Klabunds, Trakls oder Werfels widmete. Texte, die in der Regel von dem Feuilletonisten, Literaten und Dramaturgen Johann Frerking ausgewählt wurden.

Eine noch kürzere Lebensdauer war der Zeitschrift »Der Zweemann« beschieden, von der lediglich 10 Hefte zwischen November 1919 und August 1920 erschienen, herausgegeben von dem Schwittersfreund und Kunstkritiker des »Volkswillen«, Christoph Spengemann, dem Lyriker F. W. Wagner und dem Darmstädter Hans Schiebelhuth.“ [17]

Als das bedeutendste Verlagsunternehmen darf der Verlag des gelernten Buchhändlers Paul Steegemann gelten, dessen bekanntestes Erzeugnis die Schriftenreihe »Die Silbergäule« waren. Gescheitert ist hingegen Steegemanns Versuch, eine Wochenzeitschrift mit dem Namen »Der Störtebeker« herauszugeben. „Von ihr sind lediglich 5 Ausgaben erschienen, doch waren unter den Autoren immerhin Schriftsteller vom Rang eines Theodor Lessing, Johann Frerking und Erich Maria Remarque, welch letzterer sein Brot in der Werbeabteilung der »Conti« verdiente.“ [18]T

Treffpunkt der Literaten war das Café Kröpcke im Zentrum Hannovers. Hier fanden sich regelmäßig Lessing, Remarque, Frerking, Steegemann, aber auch Architekten wie Adolf Falke ein.

Zoo

In den 1920er Jahren gehörte ein Zoobesuch zu den beliebtesten Freizeitbeschäftigungen überhaupt. „An den Pfingstfeiertagen 1925 wurden 56.000 Besucher gezählt, im Laufe des Jahres 1927 insgesamt 430 000.

Besonders beliebt waren die schon in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts eingeführten »billigen Sonntage«, d. h., an jedem ersten Sonntag konnte man in den Sommermonaten den Zoo bei verbilligtem Eintritt besuchen. Davon wurden manchmal bis zu 30 000 Tagesgäste angelockt. Aber auch der normale Eintritt war relativ preiswert. 70 Pf. kostete eine Tageskarte bis 1928, 8 RM eine Dauerkarte. Die Direktion gab sich große Mühe, den Besuch durch zusätzliche Veranstaltungen noch attraktiver zu machen. Es wurden Kinder- und Gartenfeste, Masken-Bälle, Konzerte und sogar Fallschirmabsprünge veranstaltet. Zum Mißfallen des Magistrats, der Konkurrenz für die städtischen Bühnen befürchtete, wurde die Löweninsel als Freilichtbühne verwendet und hier u. a die Operette „Das weiße Rößl“ aufgeführt. Auf Kritik diesmal seitens der Kinobesitzer, stießen auch die KC Stenlosen Filmvorführungen unter freiem Himmel“  [19]

Die Hannöversche Gesellschaft und bürgerliche Mäzene

Waren es nach dem Beginn der Personalunion zunehmend die „hübschen Familien“- das aufstrebende Bürgertum-, die das gesellschaftliche Leben Hannovers prägten, so spielten in den 1920er Jahren, auch jüdische Mitbürger (in Hannover lebten damals ca. 6000 Juden), in Politik, Wirtschaft und Kultur zunehmend eine Rolle. Justizrat Philipp Benfey spielte zwischen 1919 und 1924 als einer der Wortführer der »Bürgerlichen Mitte« im Bürgervorsteherkollegium ebenso eine herausgehobene Rolle wie Iwan Katz, den sein politischer Weg von der SPD zur KPD geführt hatte.

Ferdinand Elsbach vom gleichnamigen Kaufhaus stand an der Spitze der Einzelhandelsvereinigung Hannover, der Privatbankier Dr. Karl Herzfeld war Vorsitzender des Vereins Hannoverscher Bankfirmen e. V., und der Kommerzienrat Hermann Gumpel gehörte zu den Spitzen der deutschen Kaliindustrie. Sigmund Seligmann, einem der Gründungsväter der „Conti“, wurde 1923 die Ehrenbürgerwürde verliehen. Im Musik- und Theaterleben sind vor allem der Opernkapellmeister Richard Lert und der Schauspieldirektor Georg Altman besonders in Erscheinung getreten [20]

Lissitzky mußte ein Lungenleiden in einem Schweizer Sanatorium behandeln lassen. Die hierfür erforderlichen finanziellen Mittel erhielt er  durch Werbe- und Design-Aufträge der Pelikan-Werke, also der Beindorffamilie, die ebenso wie die Familien Bahlsen und später Sprengel eine bemerkenswerte mäzenatische Wirksamkeit entfaltete.

In diesem Zusammenhang ist auch Käte (Kate) Steinitz zu erwähnen, die, selbst Künstlerin von Rang. 1917 mit ihrem Gatten, dem Arzt Dr. Ernst Steinitz, nach Hannover kam. 1918 lernte sie hier Schwitters kennen und machte ihr Haus zu einem Treffpunkt der künstlerischen Avantgarde, während ihr Gatte viele Künstler, darunter auch Schwitters, kostenlos behandelte.[21]

Neben dem Café Kröpcke spielte das Haus des Sanitätsrats Leo Catzenstein für das literarische Leben etwa die gleiche Rolle wie der Salon der Käte Steinitz für die bildende Kunst. Den Ton bei Catzenstein gab Johann Frerking an, zu dessen Jüngern neben anderen auch Kurt Hirschfeld gehörte, der spätere große Theatermann und Direktor des Zürcher Schauspielhauses.

Einen plastischen Eindruck vom Leben und Treiben in Hannover vermitteln die folgenden literarischen Texte:

Theodor Lessing über die Sittenlosigkeit [22]

„…Geht man vom Bahnhof aus die breite Baumallee der Bahnhofstraße entlang, so gelangt man nach wenigen Minuten in die Georgstraße, die Herzader der Stadt. Ein weiter Boulevard, lindenüberblüht, voller Beete, Gartenanlagen, Pavillons und Denkmäler. Und dort zwischen dem alten berühmten Hoftheater und den schönen Gartenanlagen des sogenannten Café Kröpcke befand sich um 1918 ein zweites Zentrum der Sittenlosigkeit: der «Markt der männlichen Prostituierten», deren 500 damals in den Polizeilisten eingeschrieben standen, indes der Kriminaloberinspektor die Gesamtzahl der sogenannten Homosexuellen in Hannover auf nahezu 40 000 veranschlagt. Sie bilden eine eigene kleine Welt. In einem der schönsten Lokale der Kalenberger Neustadt, dem sogen. Neustädter Gesellschaftshaus, veranstalteten sie Gesellschaftsabende und Bälle, bei denen Knaben und Jünglinge in weiblicher Ballkleidung den Damenflor vertraten. Ein zweiter minder vornehmer Treffpunkt war der alte Ballhof, ein Barocksaal aus der Königs- und Kurfürsten-zeit. Und für die allerunterste Schicht gab es in einer der feinsten Straßen der Altstadt, welche «Neue Straße» heißt, ein kleines Tanzlokal, genannt «Zur schwulen Guste», wo, nur auf ein bestimmtes Zeichen hin zugelassen, lesbische Mädchen und gleichgeschlechtlich gerichtete Männer nachts zusammenkamen. Aber das dritte Hauptzentrum alles Luder- und Lasterlebens war die malerische Altstadt, dort wo der Fluß an dem sogenannten Hohen Ufer entlang eine von vielen Brücken überquerte, als «Klein-Venedig» bekannte, uralte Inselstadt bildet: Verfallene Winkel, Jahrhunderte altes Gemäuer, ein trotziger altsächsischer Beguinenturm und ein Gewirr von Giebeln, Fachwerk und baufälligen, noch ans Mittelalter mahnenden Gassen, aus deren Mitte jene Kirche ragt, in welcher Leibniz begraben liegt, sowie der auf dem «Berge», einer plangemachten Rampe, erbaute maurische Judentempel. Dieser Stadtteil, unmittelbar benachbart dem vom Strom bespülten mächtigen Schloß der Welfen, war einst der vornehmste Stadtteil, ist aber im Lauf der Zeiten, ähnlich der Umgebung des Berliner Schlosses, zum ärmsten Kaschemmen- und Verbrecherviertel herabgesunken. …..

Johann Frerking: „Phantastisches Hannover [23]

Außen um die Häuser weht immer noch der alte «Noblessenwind», der schon vor hundert Jahren den Poeten an die Nerven griff. Die letzten Welfen bauten eine besondere, mit doppelten Baumreihen besetzte Straße, die nur tote Könige befahren sollten. [24] Dem Kömmling zum Gruße zeigt ein gewesener Landesvater seine und seines Pferdes wuchtige Kehrseite. Lat meck tofreden! Kein Klima für Neuerer.…..

Aufregung schadet dem Gedärm. Nil admirari! Leibniz und Hölty, die den Eigensinn hatten, hier zu sterben, wurden so gut und sicher beigepackt, daß ihr Verbleib, als es dann plötzlich und unerwartet ans Denkmalsetzen ging, nicht mehr nachgewiesen werden konnte. (Seitdem lassen sich die besseren Stadtsöhne mit Vorliebe in Dresden, Bonn, Berlin oder München begraben.)

Und doch: Phantastisches Hannover! Nicht nur in der Altstadt unter den Türmen der vier Stadtkirchen, wo lustige Giebel und weitläufige Dielen und Höfe von patrizisch-breitem Leben und Lebenlassen erzählen,

wo in verkrochenen Schänken noch vor kurzem das Stadtgetränk Broyhan mit Schluck (sprich: Lüttje Lage) jedwede getreue Opposition flott hielt; nicht nur in der Burgstraße, wo Trödler und Pfandleiher jetzt die großen Häuser besetzt halten, in denen ehedem die fremden Gesandten residierten; nicht nur am Hohen Ufer, wo um das alte Beghinenkloster herum heute die anspruchsloseren Horizontalen ihren Kriegspfad ausgetreten haben –

die ganze Stadt webt und wimmelt von phantastischen Wesen und Dingen. Der dunkle, schieläugige Einbein mit dem zerrauften Bart, der Sommers an leichter, heller Holzkrücke, zur Winterszeit an einer gewichtigen, um ein Hakenbört bereicherten Eisenschiene Nacht für Nacht immer durch die selben Straßen marschiert und auf den selben Ladenschwellen rastet, das alte lahme Blumenmädchen, das um die gleiche Stunde jeden Abend gewaltige Strecken zurücklegt und überall frohen Pärchen und melancholischen Einspännern Rosen und Erfahrungen mitteilt, die große Trödelfrau in der kleinen Bude hinter St. Johannis, bei der Prinzessinnen und Kommerzienräte regelmäßig einkehren, um Wedgewood und Meißen, Boule oder Smyrna zu erhandeln, der Fratzenschnitzer im Tiefental und der jovialisch-epikureische Antiquarius bei St. Aegidien, sie haben alle das volle Maß zu Hauptpersonen eines Romans, den Eugen Sue oder Wilhelm Raabe oder Gustav Meyrinck zu schreiben vergessen hat.

Aber Hannover bedarf solcher Originale gar nicht, um äußerst originelle Wirkungen zu erzielen. Ist irgendwo sonst in unseren Tagen ein Einfall geheckt wie dieser: zum Sonnwendfeste Wagners Wotan, im blauen Mantel und den Götterhut überm Einauge, seinen für die Feier sanft zurechtgebogenen «Abschied» singend, vor einer Schar von Elfen und Wichteln quer durch die im Stadthallengarten tafelnde Creme älteren und jüngeren Datums ziehen zu lassen? «Leb wohl du schönes, herrliches Licht!» Beim Großen Christoph, der auf dem Johanniskirchhof begraben liegt, seines Leibes vier Ellen sechs Zoll lang: das macht uns keiner nach.

Legitimes Zentrum des Phantastischen ist hier und heute nicht irgendein Tee- oder Kaffeehaus, wo Spießer in Boheme machen und Bohemiens spießern, sondern die Deutsche Volksbühne in der Münzstraße. Ganz ohne literarische Scheuklappen: reine Freude der Darsteller und Zuschauer. Der Direktor schreibt die Stücke, sitzt an der Kasse, spielt die Hauptrollen, singt zwischendurch Couplets und trinkt vorher, nachher und wenn sonst die Gelegenheit winkt, an der Theke Schnäpse. Das R rollt unbeirrt durch „Wüstensand verloren», Pulverdampf und über Messerschneiden. «Der Fürst der Finsternis»,

«Der Vampir von New York», – lauter große Dramen mit mehreren Todesfällen. Jedesmal wenn einer stirbt, geht die Hauskapelle vom Klavier zum Harmonium über. Die Preise sind zivil. (Publikum gratis Nimmt man den billigsten Platz, hat man den Ausblick auf das übrige )

….. Die wichtigste Baulichkeit des Ortes ist die Normaluhr bei Kröpcke. Die Stadtväter und – großväter spielen mit dem Kultusministerium eine Partie «Mein Theater, Dein Theater» nach der anderen.

«Wir werden doch alle mal in Stöcken begraben“ sagt mein Freund, der Philosoph unter den Buchhändlern. 


[1]Geschichte der Stadt Hannover, Band 2, 1994, Hrsg : Klaus Mlynek, Waldemat Röhrbein

[2]Werner Heine: Verlauf und Auswirkung der Novemberrevolution 1918 in Hannover, 1978

[3]VIicki Baum:, Es war alles ganz anders, Autobiografie, 2018

[4]Geschichte der Stadt Hannover, Band 2, 1994, Hrsg : Klaus Mlynek, Waldemat Röhrbein

[5]Ebenda

[6]Vgl. Besecke, Manfred, hach Renate: Wohnungsnot in Hannover nach dem 1. Weltkrieg, 1982

[7]Geschichte der Stadt Hannover, Band 2, 1994, Hrsg : Klaus Mlynek, Waldemat Röhrbein

[8]Alltag zwischen Hindenburg und Haarmann, 1987 hrsg Geschichtswerkstatt Hannover

[9]Geschichte der Stadt Hannover, Band 2, 1994, Hrsg : Klaus Mlynek, Waldemat Röhrbein

[10]Die zwanziger Jahre in Hannover, 1962, Katalog zur Ausstellung im Kunstverein Hannover

[11] ebenda

[12]ebenda

[13]Feldmann Friedrich, Geschichte des Ortsvereins Hannover der SPD 1864-1933, 1952

[14]Nach:  Die zwanziger Jahre in Hannover, 1962, Katalog zur Ausstellung im Kunstverein Hannover

[15]ebenda

[16]Vgl dazu Röhrbein 1978 und Rischbieter in Hannoversches Lesebuch Bd 2, 1978

[17] Vegl hierzu Henning Rischbieter, Hannoversches Lesebuch Bd 2, 1978

[18]ebenda

[19] Geschichte der Stadt Hannover, Band 2, 1994, Hrsg : Klaus Mlynek, Waldemat Röhrbein

[20]Vgl- Schulze, Peter: Juden in Hnnover, Beiträge zur Kultur und Geschichte einer Minderheit, 1989

[21]Vgl. hierzu Kate Steinitz, in Katenhusen, Ines: Kunst und Kultur im Hannover der zwanziger Jahre, 1991

[22]Aus  Lessing,: Harmann, Geschichte eines Werwolfs, 1925 nach Henning Rischbieter, Hannoversches Lesebuch Bd 2, 1978

[23]Aus Henning Rischbieter, Hannoversches Lesebuch Bd 2, 1978

[24]Die Straße zum Mausoleum beim Herrenhäuser Botanischen Garten