1970 öffnete die von Walt Disney gegründete Kunsthochschule »California Institute of the Arts« (CalArts) bei Los Angeles (Kalifornien, USA) ihre Türen. CalArts entwickelte in den ersten Jahren ein radikales, wegweisendes Schulmodell, das in seiner Interdisziplinarität an europäische und US-amerikanische Vorgängermodelle wie dem Bauhaus und dem Black Mountain College anknüpfte. Die Schule egalisierte das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden und kam ohne Benotungssystem aus. Mit der institutionellen Etablierung konzeptueller und feministischer Konzepte an den Lehrstühlen »Post-Studio« von John Baldessari und »Feminist Art Program« von Miriam Schapiro und Judy Chicago hat CalArts eine Vorreiterrolle eingenommen. »Wo Kunst geschehen kann – Die frühen Jahre des CalArts « widmete sich den ersten zehn Jahren der Kunsthochschule und führte erstmalig die dort vertretenen Lehrkonzepte mit den daraus entwickelten künstlerischen Praktiken in einer Gruppenschau zusammen. Gezeigt wurden ca. 100 Werke von rund 40 Künstler*innen, darunter Arbeiten, die zum ersten Mal öffentlich präsentiert wurden.
Unumstrittenes Highlight eines wahren Eröffnungsmarathons war das herzliche und freudige Wiedersehen der Künstler*innen des CalArts in der Kestner Gesellschaft. Zu Gast waren u.a. Klaus vom Bruch, Eric Fischl, Ann Noël, Daniel Joseph Martinez, John Miller, Anthony Ramos, Ulrike Rosenbach, Faith Wilding und einige dieser Künstler*innen hatten sich seit über 40 Jahren nicht mehr gesehen.
Nach Pressekonferenz, Preview und Eröffnung, die für die meisten Akteure immer erst jeweils sehr spät in der Nacht endeten, lud die Kestner Gesellschaft zu einem Künstlerinnengespräch ein: Ann Noël, Ulrike Rosenbach und Faith Wilding diskutierten über die Suche nach einer genuin weiblichen Bildsprache und den schützenden Rahmen von Frauennetzwerken. Besonders spannend wurde die Debatte durch die Beteiligung der zahlreichen Teilnehmer*innen unterschiedlichen Alters, von Schüler*innen und Student*innen bis hin zu Rentner*innen.
Zum Zinnober-Wochenende präsentierte die Kestner Gesellschaft junge Künstler*innen der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig mit kurzen Werken und Performances als Reaktion auf die Ausstellung. 16 Künstler*innen stellten sich dabei Fragen nach der Aktualisierbarkeit der progressiven Kunst des CalArts und nach Kunstfreiheit heute. Die Klasse der Künstlerin Frances Scholz erstellte hierfür bspw. die performative Intervention AND ALL WE’VE GOT TODO IS ROLL OVER; AND THE DREAM WILL BE OVER. Die Arbeit stand ganz im Zeichen des hierarchielosen Miteinanders und der medialen Flexibilität, wie sie auch am CalArts gelehrt wurde.
Krönender Abschluss der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den frühen Jahren des CalArts war ein internationales Symposium in den Herrenhäuser Gärten. Neben Christina Végh und Annette Jael Lehmann, Kooperationspartnerin der Freien Universität Berlin, waren hier Geisteswissenschaftler internationalen Rangs eingeladen: Die Kunsthistorikerin Amelia Jones aus Los Angeles verortete bspw. das Werk von Suzanne Lacy zwischen Allan Kaprow und Judy Chicago. Und der deutsche Kunst- und Kulturwissenschaftler Wolfgang Ulrich sprach über das Unbehagen am Atelier, das bereits bei den Nazarenern im frühen 19 Jahrhundert einsetzte. Im Anschluss konnten in der Kestner Gesellschaft fünf Performances von Matt Mullican erlebt werden, die er allesamt am CalArts entwickelte und die die Besucher*innen der Ausstellung in traumartige Zustände der Erinnerung versetzten.
Zahlreiche Artikel begleiteten dieses außergewöhnliche Ausstellungsprojekt: Die Edition von James Welling, das von Student*innen gestaltete 400-seitige Magazin zu Post Studio und dem Feminist Art Program, das 65-seitige Begleitheft zur Ausstellung, die Zeitungsbeilage KestnerPresents, die begehrte KestnerTasche zur Ausstellung u.v.a.
Diese umfangreiche Ausstellung nahmen wir vom Förderkreis zum Anlass, um ein ganz neues Format für unsere Mitglieder einzuführen: „Mit der Kunst die Seele baumeln lassen“. Unter diesem Motto trafen wir uns an zwei Sonntagen, um ohne Zeitdruck, mit kleinen Pausen, Speis & Trank, in die Tiefen dieser umfassenden Ausstellung einzutauchen. Es war ein Vergnügen, dem Kuratorinnen-Team Lea Altner und Julika Bosch bei ihrer charmanten Führung zu folgen und ein Genuss, mit unserer Direktorin Christina Végh die von ihr kuratierte Ausstellung noch einmal so konzentriert und intensiv zu erleben.
Auch Luise Wicks Vermittlungsprogramm setzte bei dieser Ausstellung ganz neue Akzente. Überdurchschnittlich viele Oberstufenklassen und Hochschulen haben sich für Führungen angemeldet und wir konnten rund 500 Studierende durch die Ausstellung begleiten.
In einer Woche besuchten rund 120 Schülerinnen und Schüler der Schillerschule und ihre holländischen Partnerschulen aus Zwolle und Haarlem die Kestner Gesellschaft. Zwei Tage lang standen ganz im Zeichen von „Wo Kunst geschehen kann“ und den Synergien von Mensch und Umgebung in Zeiten von „Fridays for Future“. Angelehnt an die Lehrkonzepte des CalArts haben die Mittelstufenschüler*innen in Workshops Orte gefunden, an denen Kunst geschehen kann, Aktionen im öffentlichen Raum durchgeführt und ein Gemeinschaftskunstwerk erschaffen. Am Ende wurde viel darüber gesprochen – natürlich in Englisch!
In den Herbstferien beschäftigten wir uns mit den künstlerischen Möglichkeiten von Performance: Jugendliche ab 14 Jahren erkundeten gemeinsam mit den Theater- und Performance-Pädagoginnen Billie Enders und Charlotte Lauber szenisch und performativ die Ausstellung und entwickelten ihre eigenen Performances. Das Feedback aller Teilnehmenden: „Das war mega cool!“
Die Zeit ist gerannt – am 30. August war Eröffnung, am 10. November die letzte Führung mit Kuratorin Julika Bosch. Schade, wir hätten CalArts gern noch einige Zeit in Hannover gehabt, denn bei jedem neuen Besuch entdeckte man neue Facetten. Ab März 2020 im Kunsthaus Graz zu sehen.